Berlin | 8. Mai 2003 | 6. Ijar 5763


Arroganz der Ignoranz
Im europäisch-amerikanischen Verhältnis hat die Stunde der Wahrheit geschlagen


Von Margarita Mathiopoulos

Es ist ein Sieg von Demokratie und Freiheit im Irak: Amerikaner und Briten haben nach nicht einmal einem Monat Kampfzeit den irakischen Massenmörder Saddam Hussein gestürzt. Was die UNO in zwölf Jahren und mit siebzehn Resolutionen nicht geschafft hat, ist dank der Entschlossenheit von George W. Bush und Tony Blair vollbracht: Die Beseitigung und Entwaffnung eines der gefährlichsten Regime der Neuzeit. Natürlich ist jedes Opfer eines zuviel, natürlich ist Krieg immer grausam. Aber gegenüber den Prognosen der Berufsbetroffenen und Bedenkenträger hierzulande (ein Flächenbrand im Nahen Osten, eine neue Terrorwelle gegen den Westen, blutige Straßenkämpfe in Bagdad, monatelange Flächenbombardements der Städte, Hunderttausende von Toten) ist das Ergebnis des Militäreinsatzes weit weniger schrecklich - vor allem gemessen an den unzähligen Opfern der Terrorherrschaft Saddams. Der Sieg der alliierten Koalition kann der Neuanfang für Frieden und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten sein.

Der Krieg im Irak ist die Stunde der Wahrheit für eine neue Weltordnung, die künftige Sicherheitsarchitektur der Staatengemeinschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert. Es ist die Stunde der Wahrheit für die EU, die sich entscheiden muß, ob sie sich als Partner in einem europäisch-atlantischen Europa oder als Gegengewicht zu den USA in einem französisch-deutsch dominierten Europa definieren will und für die Atlantische Allianz, die eine Zukunft nur hat, wenn sie den globalen Sicherheitsbedrohungen militärisch begegnen kann und politisch darf.

Der Sturz Saddams ist ein Etappensieg in einem Krieg, den totalitäre islamistische Terroristen am 11. September 2001 den USA und der übrigen westlichen Zivilisation erklärt haben; an diesem Tag begann der Versuch der "Al Kaida"-Terrorbande, Amerika und die anderen westlichen Demokratien den von Samuel Huntington vorhergesagten "Kampf der Kulturen" - fanatisierter Islamismus vs westlichen "way of life" und Christentum - aufzuzwingen. Die Antwort darauf war eine von Washington besonnen geschmiedete und geführte "Allianz gegen den Terror".

Die Entmachtung des arabischen Diktators Saddam Hussein - eines Herrschers, dessen totalitäres Regime Massenvernichtungswaffen hergestellt hat, die er, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, bedenkenlos gegen andere Länder eingesetzt und ohne Zögern terroristischen Akteuren muslimischer und anderer Provinienz zur Verfügung gestellt hätte, der palästinensische Selbstmordattentäter, die Dutzende von Israelis in den Tod mitreißen, mit Geld belohnte - war das Gebot der Stunde, um den Krieg islamistischer Verblendung gegen den Westen zu beenden.

Es ist die Stunde der Wahrheit, zu erkennen, daß die Arroganz der Macht, die den USA seit 1945 vorgeworfen wird, auf einer Realpolitik beruht, die während des fünfzig Jahre andauernden Kalten Krieges dem freien Europa, dem freien Deutschland und dem geteilten Berlin politische Solidarität gewährt und militärischen Schutz garantiert hat. Als 1989 die Berliner Mauer fiel und die kommunistische Ideologie nicht mehr aufrecht zu erhalten war, die Welt von einer berechenbaren bipolaren in eine unberechenbare multipolare (Un-) Sicherheitsarchitektur eintrat, mahnte George Bush sen. an, daß die nach dem Ende des Kalten Krieges entstandene sicherheitspolitische Lücke nach einer neuen Weltordnung verlangte.

Doch der alte Kontinent war in den 1990er Jahren darauf konzentriert, seine "Friedensdividende" einzustreichen. Zwar hat Milosovic Europa kurzfristig aus seinen "perpetual peace"-Träumen gerissen, aber nachdem die USA im Hinterhof der Europäer, auf dem Balkan, für Ruhe gesorgt hatten - wir erinnern uns: ohne Mandat der UNO - legte man sich in Brüssel und Berlin wieder schlafen.

Dank der realpolitischen Arroganz der Macht der USA ist Deutschland heute vereinigt; Paris, London und auch Moskau mußten während des 2+4 Prozesses gelegentlich deutlich von Washington zum Jagen getragen werden. Dank einer ideologischen Arroganz der Ignoranz hat Berlin Europa dagegen heute in die Krise gestürzt. Was die Sowjets fünfzig Jahre lang nicht geschafft haben: Deutschland transatlantisch zu isolieren, Europa zu spalten und die NATO zu paralysieren, gelang Saddam Hussein dank der rot-grünen Bundesregierung in Berlin innerhalb nur weniger Monate.

Der Irak-Krieg ist die Stunde der Wahrheit für Berlins unprofessionelle, undiplomatische, anti-amerikanische und anti-europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Erstmals seit 1945 hat Deutschland durch sture Verweigerungshaltung das deutsch-amerikanische Verhältnis - sein wichtigstes - schwer beschädigt und jenes zu Frankreich auf eine anti-amerikanische Linie reduziert. Durch diese gegen deutsche, europäische und atlantische Interessen gerichtete Politik ist die Balance zwischen Europa und Amerika nachhaltig ins Wanken geraten. Zudem hat Berlin durch seinen politischen Unwillen, die Verteidigungsfähigkeit der NATO zu stärken, die Allianz erheblich geschwächt und letztlich durch destruktives und unkooperatives Verhalten den europäischen Einfluß in der UNO auf ein Minimum reduziert, obgleich es mit seinem Vorsitz und der Repräsentanz von fünf (!) europäischen Staaten im UN-Sicherheitsrat alle diplomatischen Mittel hatte, durch konstruktives Engagement eine einheitliche europäische Position herbeizuführen.

Europa hat die Zeit des großen geostrategischen Gezeitenwechsels zwischen dem Fall der Mauer und dem Einstürzen des World Trade Centers ungenutzt verstreichen lassen und es versäumt, eine kohärente gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufzubauen, von einer ernsthaften militärischen Komponente ganz zu schweigen.

Dabei hatte der alte Kontinent 1990 zum ersten Mal seit 1945 die Macht, die Mittel und die Freiheit, seine Kapazitäten zu bündeln: "to make Europe safe" für eine gleichberechtigte Partnerschaft mit der Supermacht USA und ein "global player" zu werden. In der selben Zeit ist Amerika konzeptionell, strategisch und materiell enteilt und zur Hypermacht geworden.

Selbst nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 wachte Europa sicherheitspolitisch nicht wirklich auf. Präsident George Bush jun. reagierte - wie übrigens jeder andere amerikanische Präsident es auch getan hätte - auf die potentielle Verbindung Massenvernichtungswaffen-Terrorismus schnell, und handelte. Durch die Tatsache, daß unser aus dem siebzehnten Jahrhundert stammendes Völkerrecht nicht vorschreibt, wie man auf Angriffe von nicht-staatlichen Terror-Akteuren angemessen reagiert - daher im einundzwanzigsten Jahrhundert obsolet geworden ist und dementsprechend an die neue politische Weltlage angepaßt werden muß - ließ sich Washington nicht die Initiative aus der Hand nehmen: Die amerikanische Administration, wie auch die britische Regierung - übrigens die ältesten Demokratien - betrachteten den Angriff auf den Irak als präemptiven Schritt zur langfristigen Selbstverteidigung der Gemeinschaft freier Staaten und fühlten sich dabei nicht ausschließlich auf die Zustimmung der UNO angewiesen, in dem eine moralische Instanz wie Libyen dem "Ausschuß für Menschrechtsfragen" vorsitzt.

Allerdings hätte der amerikanische Präsident auf die Unterstützung zweier europäischer Staaten zählen wollen, die Amerika jahrzehntelang im Kalten Krieg verteidigt hat: Deutschland und Frankreich. Statt sich an die Seite des Verbündeten USA zu stellen - dann wären die Briefe der acht EU Staaten und der Vilnius-Gruppe nie geschrieben worden - startete Jacques Chirac eine beispiellose Kampagne gegen Washington - und nahm Deutschland dabei Huckepack. Der Präsident der "Grande Nation", der wohl als einziger Staatschef weltweit noch an dem Großmachtstatus Frankreichs glaubt, stand ganz unter gaullistischem Wahn, dessen primäres außenpolitisches Ziel die Einhegung des amerikanischen Hegemons ist und dem die Interessen Frankreichs in den Wüsten Arabiens wichtiger sind als die transatlantische Partnerschaft. In der Auseinandersetzung um den Irak-Krieg witterte er die Chance, eine internationale Koalition gegen Washington zu schmieden - allein es fehlte der Partner, standen doch fast alle europäischen Partner prinzipiell auf der Seite Amerikas und war doch vor allem Deutschland dafür bekannt, daß es seit 1963 stets die Balance wahrte zwischen Paris und Washington und sich kaum gegen seinen wichtigsten Verbündeten wenden würde.

Bundeskanzler Gerhard Schröder aber nahm den verhängnisvollsten außenpolitischen Schwenk Deutschlands seit 1945 vor. Nicht ohne Selbstüberschätzung nutzte der französische Präsident das europäische Vakuum, um sich gemeinsam mit Berlin gegen Washington und London zu positionieren. Plötzlich ist im einundzwanzigsten Jahrhundert wieder vom "deutschen Weg" und "gaullistischem Gegengewicht" die Rede, vom Konzert der großen Mächte sang man an der Seine, von der globalen Balancepolitik gegen die Hypermacht Amerika. Und von Goslar bis Gießen skandierte man dazu "Ami go home". Nicht die Ausschaltung eines der brutalsten Regime der neueren Geschichte waren die Ambition Berlins und Paris’; beiden ist die Einhegung der USA und Verhinderung einer unipolaren Weltordnung wichtiger.

Diese anti-amerikanisch gefärbte Politik des deutschen Bundeskanzlers läßt sich nicht nur aus seiner persönlichen Biographie erklären - ihm war schon als niedersächsischer Ministerpräsident Castros Kuba näher, als Clintons Amerika. Sie muß als durchdachte Strategie der rot-grünen Führung 68er Provinienz gesehen werden, durch den Appell an eine immerwährende Friedensliebe der deutschen Linken - was im Ernstfall auch das Ende der Demokratie und der Freiheit bedeuten kann - und die Mobilisierung latent vorhandener anti-amerikanischer Ressentiments auf rechter wie linker Seite, um von der innenpolitisch katastrophalen Bilanz abzulenken. Diese anti-amerikanischen Ressentiments finden sich schon bei Fichte und dessen moralisch-überhöhten kulturellen überlegenheitsanspruch deutscher Politik und bilden die geistige Grundlage vieler Rechts-Intellektueller in diesem Land. Die Linke dagegen hat es in Selbsthaß auf das eigene Land nie verwunden, daß erst die Amerikaner kommen mußten, um Auschwitz zu befreien - die selben Amerikaner, die sich dann in Vietnam schuldig gemacht haben, dies zugaben, und die Deutschland im Kalten Krieg mit Atomraketen statt mit Friedenstauben bestückten - und damit auch noch recht behielten. Aber auch Teile der Rechten kommen mit dem 8. Mai 1945 nicht klar: Sie wollen diesen Tag nicht als Tag der Befreiung akzeptieren, sondern definieren ihn lieber als Tag der Niederlage. Schließlich wurde Deutschland nicht von Soldaten der Wehrmacht befreit, sondern von amerikanischen GIs - womöglich noch Schwarzen. Es war die politische Kunst aller Bundeskanzler von Adenauer über Brandt bis Kohl diese Ressentiments auszugleichen - und nicht anzuheizen, wie es Gerhard Schröder als erster deutscher Nachkriegskanzler und Joseph Fischer als erster deutscher Außenminister bewußt praktizieren.

Was den französischen Anti-Amerikanismus betrifft, so geht dieser zurück auf die französische und amerikanische Revolution. Die französische hatte einen nationalen Charakter, die amerikanische einen universalistischen Anspruch. Daß Frankreich ohne die USA den Ersten Weltkrieg verloren hätte, trägt ebenso zu Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den USA bei, wie die Tatsache, daß es Amerika war, welches Frankreich nach 1945 großzügig - trotz Vichy - als Siegermacht honoris causa duldete.

Die deutsch-französischen Beziehungen ruhen heute auf dem dünnen Eis einer gemeinsamen Ablehnung der Führungsmacht USA - das macht die Verlogenheit des Verhältnisses aus. Berlin und Paris verbündeten sich mit dem wenig freiheitlichen Moskau und dem wenig demokratischen Peking, um die älteste Demokratie der Moderne, die USA, einzudämmen. Aber sowohl Moskau wie auch Peking ist am Ende des Tages ihr Verhältnis zu Washington wichtiger als zu einer ehemaligen Mittelmacht und dem Zentral-Papiertiger Europa.

Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit für die realpolitisch nicht mehr existierende deutsch-französische Achse: Die jetzige Krise wird zeigen, ob sich das "neue" Europa unter Führung des Briten Blair, des Spaniers Aznar und des Polen Kwasniewski durchsetzen wird - ein starkes, gleichberechtigtes Europa, das gemeinsam mit den USA sicherheitspolitische Konsequenzen aus den weltgeschichtlichen Paradigmenwechseln 1989 und 2001 gezogen hat und an einer neuen Weltordnung mitwirkt - oder ob das "alte" Europa weiterhin die transatlantische Allianz spalten wird, wie es Deutschland und Frankreich in beispielloser Weise getan haben. über eins sollte man sich im klaren sein: Erst Schröders "deutscher Sonderweg", der Berlin in die außenpolitische Irrelevanz führte und Europa ein gefährliches Vakuum bescherte, hat Jacques Chiracs Hybris auf den Plan gerufen, mit der Drohung eines französischen Vetos im UN-Sicherheitsrat Weltpolitik gegen die USA betreiben zu können. Nicht einmal afrikanische, von Paris finanziell abhängige Staaten, wollten sich endgültig festlegen lassen auf eine Konfrontation mit den Amerikanern.

Briten, Spanier, Italiener, Portugiesen, Polen, Tschechen, Ungarn, die baltischen Staaten, aber auch Rumänien oder Bulgarien, sie alle können sich die Zukunft Europas nur an der Seite Amerikas vorstellen, das wurde erneut deutlich auf dem historischen EU-Gipfel in Athen am 16. April - Europas Interessen sind auch atlantische Interessen, ein geeintes und starkes Europa ist der beste Verbündete für die Vereinigten Staaten; das weiß auch Washington. Daher mutet der jüngste belgische Vorschlag, eine europäische Armee aus den NATO-untauglichen Ländern Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg zu gründen, eher wie ein sicherheitspolitischer Treppenwitz. Solche Vorschläge sind Europa im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht würdig. Auch der Dreier-Gipfel Schröder-Putin-Chirac in St. Petersburg war das falsche Signal in Richtung Amerika, aber auch in Richtung Europa: Unheilige Allianzen wie diese gehören ins neunzehnte Jahrhundert. Ernstzunehmender Partner der USA kann Europa nur werden, wenn sich zumindest London, Berlin und Paris einig sind.

Auch für die NATO schlägt in diesen Wochen die Stunde der Wahrheit, und es bedarf eindeutiger Verpflichtungen auf beiden Seiten des Atlantiks, will man die Allianz vor dem Schicksal einer bewaffneten OSZE bewahren. Gleichzeitig bietet sich eine enorme Chance für die Allianz: Es gibt kein geeigneteres Instrument als die NATO mit ihrer Reichweite und ihren Kapazitäten, um die Sicherheit im Nachkriegs-Irak zu gewährleisten.

Für eine dauerhafte Friedenslösung im Nahen und Mittleren Osten braucht Washington Europa, denn es kann weder durch ein amerikanisches Militärprotektorat erreicht werden, noch durch die Hoffnung auf das wundersame Aufblühen der Pflanze Demokratie im Wüstensand: Hierzu bedarf es eines langfristigen strategischen Demokratie-Aufbau-Planes, den die Europäer mit ihren historischen Erfahrungen und ihrem zivilgesellschaftlichen Ansätzen mitgestalten müssen. Staaten, die bereits auf dem Weg zur Demokratie sind, wie die Türkei, Marokko, ägypten oder Jordanien, könnten dabei in Ausschnitten als Vorbilder dienen. Der arabischen Welt die Fähigkeit zur Demokratie abzusprechen - wie so mancher "Nahostexperte" hierzulande - zeugt von jener Fichteschen erhabenen überheblichkeit.

Ein erster Ansatz zu gemeinsamen Handeln, daß von der UNO mitgetragen werden sollte und von der NATO abgesichert ist, wäre eine amerikanisch-europäische Initiative "to make the Greater Middle East safe for democracy". Marshallpläne gegen die Talibanisierung des Nahen und Mitleren Ostens sind notwendig, um den Rekrutierungsboden für islamistischen Terror auszutrocknen. Die Bekämpfung des Analphabetismus und der Jugendarbeitslosigkeit sind dabei die wichtigsten Schritte, bei der politischen Neustrukturierung Iraks nach dem Krieg, aber auch der Staaten in der Region.

Es geht um eine neue Weltordnung, die bereits George Bush sen. angemahnt hatte: George Bush jun. wird daran gemessen werden, ob es ihm gelingt, diese neue Weltordnung mit den Europäern, der NATO, der UNO und vielleicht auch gemeinsam mit Rußland und China zu entwerfen und zu verteidigen.

Professor Margarita Mathiopoulos ist CEO der European Advisory Group GMBH Deutschland und Professorin für US-Außenpolitik und Internationale Sicherheitspolitik an der Universität Potsdam. Sie ist Vorsitzende des Bundesfachausschusses "Internationale Politik" der FDP.